Eine „Mutter“ vieler Kinder
Irmgard Hagspiel, die in Bregenz gelebt, aber durch ihre Wirken über die Grenzen Vorarlbergs hinaus bekannt geworden ist, ist am 13. Feb. 2005 verstorben. Sie hat uns das Beispiel einer außergewöhnlichen Nächstenliebe hinterlassen, die vorbildlich ist und die nachahmenswert bleibt.
Irmgard Hagspiel, 1922 geboren, absolvierte während des Krieges eine Ausbildung als Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin und war 35 Jahre lang in der von den Dominikanerinnen des Klosters Thalbach geführten Mädchenhauptschule in Bregenz als Lehrerin tätig. Zunächst unterrichtete sie 10 Jahre lang Hauswirtschaft. Nach dem Besuch eines Seminars für Sexualerziehung unterrichtete sie ab 1951 auch dieses Fach. Bald sprach es sich herum, dass sich hier jemand zutraut, dieses heikle Thema vor 13- bis 18-jährigen Schülern zu behandeln. So erhielt sie im Rahmen eines Schulversuches eine halbe Dienstverpflichtung für Hauswirtschaft und eine halbe für Vorträge in den Schulen und für Elternabende.
Sie fuhr in ganz Vorarlberg von Ort zu Ort und kam auch in die Schweiz. Sie betreute rund 150 Schulen. Mit sehr kluger und einfühlsamer Pädagogik verstand sie es, den jungen Menschen das nötige Wissen und die sittliche Wahrheit zum Thema Sexualität nahe zu bringen. Die Schüler hatten mit ihren vielen Fragen großes Vertrauen zu ihr.
Im Laufe der Zeit erkannte sie immer klarer, dass sie nicht jeden Tag in den Schulen nur sagen konnte: „Abtreibung ist nie eine Lösung“, ohne selbst eventuelle Konsequenzen zu tragen.
Und tatsächlich: Fünf Jahre nach Beginn ihrer Vortragstätigkeit kam der erste Anruf einer Schülerin. Sie kenne ein schwangeres Mädchen, das wolle Selbstmord verüben. Sie traue sich nicht, es den Eltern zu sagen. In dieser Nacht noch fährt Frau Hagspiel los, um mit dem Mädchen zu reden – und es wendet sich alles zum Guten. In dieser Art geht es weiter: “Immer wieder kamen Mitschüler oder Mitschülerinnen von in Not geratenen Mädchen zu mir und baten mich um Hilfe. Wenn sich herausstellte, dass die Situation des Mädchens zu Hause nicht abgefangen wurde, habe ich ihm vorgeschlagen, die Schwangerschaft und das Karenzjahr mit dem Kind bei mir zu verbringen.”
So kam es, dass sie im Laufe der Zeit insgesamt 48 Frauen und Mädchen für länger oder kürzer in ihre kleine Wohnung aufnahm, um ihnen in ihrer schwierigen Situation zu helfen. Durch ihren selbstlosen Einsatz konnten über 50 Kinder das Licht der Welt erblicken, die in Gefahr waren abgetrieben zu werden. 19 Kinder konnte sie zur Adoption vermitteln.
Die innere Kraft für ihr Tun fand sie immer wieder im Gebet vor dem eucharistischen Herrn. Sie erhielt vom Bischof die Erlaubnis, in ihrer Wohnung eine eigen kleine Kapelle mit dem Allerheiligsten einzurichten. “Ich habe sehr viel Schönes erlebt. Ganz glücklich war ich, wenn eine Frau in der Zeit, in der sie bei mir war, zu Gott fand. Das war oft ein langer Prozess.”
Rund 40 Jahre hat sie diesen Dienst an Frauen in Not und ihren Kindern neben ihrem Beruf in der Schule und ihrer Tätigkeit als Wanderpredigerin ausgeübt. Als junge Frau hatte sie die Absicht zu heiraten, aber ihr Verlobter kam nicht mehr aus dem Krieg zurück. So blieb sie ehelos und lebte ihre Leben für Gott. Aber gerade dadurch reifte sie zu einer große Nächstenliebe und so ist sie zur Mutter für viele Kinder geworden.
Ich habe Ströme von Tränen erlebt
Aus einem ihrer Vorträge über Sexualerziehung:
Ich habe im Laufe von 30 Jahren mit ca. 85.000 Jugendlichen über sexuelle Fragen gesprochen und leider tausendfach erfahren, in welches Meer von Verzweiflung und Leid diese jungen Menschen geraten, wenn sie der allgemein propagierten und durch die Medien geförderten Unmoral erliegen, die ihnen viele Erwachsene auch vorleben. Wo sind aber die Menschen, die sie auffangen in ihrer Not, die zu helfen und zu trösten versuchen und ihnen helfen, Schuld zuzugeben, zu bereuen und neu zu beginnen, auch wenn jetzt manches schwerer ist? Es lohnt sich aber, haben sie ja noch das ganze Leben vor sich! Werden sie jedoch nicht zu einem neuen Beginn aufgefangen, dann geht die Talfahrt von Abenteuer zu Abenteuer weiter, und die innere Not wird immer aussichtsloser. Ich habe Ströme von Tränen und viel Verzweiflung erlebt. Wer will das eigentlich? Verurteilt nicht die Betroffenen; dazu haben wir niemals das Recht. Aber helft zu trösten, abzufangen, aufzurichten, verhelft zu einem neuen Beginn. Das ist mühsam, aber es lohnt sich, auch nur einen jungen Menschen herauszuholen aus dieser Gefangenschaft. Christa Meves sagte einmal: “Die Revolution gegen die Moral wird ihre eigenen Kinder fressen.” Hat das nicht schon begonnen, wenn wir an Gewalt, Drogen, Abtreibung und Aids denken? Die schlimmste Meinung, die man dazu haben kann, ist wohl die: “Da kann man halt nichts machen, heute ist eben alles anders.” Diese Hoffnungslosigkeit der Guten ist gefährlich und zutiefst unchristlich. Sagen wir es wieder laut, nicht nur in der Familie, sondern auch in der Öffentlichkeit und im Kirchenraum: “Kehrt um, so geht es nicht weiter!” – solange, bis die Menschen wieder aufhorchen und es glauben.