Predigt für die Bruder-Benno-Gedenkmesse, Bregenz/Rektoratskirche, So., 9. Dez. 2012
Liebe Christen!
Das Kleine als Zeugnis für das Große
Am Ufer des Bodensees kann man bei sehr ruhiger Wasseroberfläche beobachten, wie ganz kleine Wellen die Kieselsteine am Ufer lieblich umspielen. Man kann den Blick darauf konzentrieren – und für einen Augenblick vergessen, dass man am Bodensee steht. Dann machen die kleinen Wellen auf einmal den Eindruck, auch zu einem winzigen beiläufigen Gewässer gehören zu können, vielleicht mit einem oder wenigen Metern Ausdehnung. Bis man dann den Blick vom Spiel der kleinen Wellen wieder erhebt und in die Ferne spät, mehr als vierzig Kilometer weit, über die große Oberfläche des Bodensees, die sich bei dunstigem Wetter sogar am Horizont verliert… Die kleinen Uferwellen erhalten nun eine andere Bedeutung: Obwohl sie so winzig sind wie bei einem unbedeutenden Tümpel oder Bach, repräsentieren sie in diesem Fall eine riesige, ja mit dem bloßen Auge kaum zu ermessende See-Oberfläche.
Wir begehen heute den 87. Todestag des gottseligen Bruders Benno. Von seinem Leben wissen wir nicht übermäßig viel. Und immer sind es kleine, alltägliche Begebenheiten. Seine Welt hier in Bregenz war die Klosterpforte – eine ganz kleine Welt. In seiner unversiegbaren Geduld und Freigebigkeit ist er in das Gedächtnis eingegangen als der “gute Bruder Benno”. Ja, seine kleine Welt mit den Kindern, den Bettlern, den sonstigen Leuten, die pausenlos kamen und gingen, mit dem lieben Wort für jedermann – sie vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck des “Guten” und “Lieben”, und das läuft Gefahr, auf uns fast niedlich zu wirken.
Bewusst wurde deshalb am Anfang eine Betrachtung zum Ufer des Bodensees angestellt. Die lieblichen kleinen Wellen, die Kieselgestein umspielen – sie können in der Tat zu einem kleinen Bachgewässer gehören. Aber sie können eben auch eine See-Oberfläche von 60 Kilometern Ausdehnung repräsentieren!
Daher sind wir eingeladen, auch bei dem kleinen guten Bruder Benno gläubig auf der Hut zu sein: Vielleicht ist das Gute und Liebe, das von ihm ausging und die Herzen berührte, gar nicht so niedlich, wie es auf ersten Blick erscheinen mag!
Vor seiner Gestalt beginnt man erst dann vor Achtung stumm zu werden, wenn man das Ganze seiner Hingabe im Blick behält. Dieser einfache Klosterpförtner des Bregenzer Kapuzinerklosters pflegte über 18 Jahre hin mit etwa vier Stunden Schlaf oder weniger auszukommen, und zwar auf einem Bett, das ein Mitbruder von ihm, als er es einmal benutzen musste, als Qual empfand. Die Füße von Bruder Benno waren geschwollen und schmerzten chronisch mit teilweise eitrigen Beulen. Seine Hände trugen Schwielen; ihre Haut war oft blutig aufgesprungen. Gebunden war er an die Glocke der Klosterpforte, und diese konnte man nicht – wie heute – elektrisch abstellen: Nein, unbarmherzig gab sie ihren Klang, sobald nur jemand von außen es wollte, und sei es zu unmöglichen Tages- oder auch Nachtzeiten. Geregelte Pfortenstunden gab es keine, auch des Nachts nicht. Diese Glocke rief ihn mit seinen wehen Füßen immer und immer, auch während einer einzigen Mahlzeit bisweilen mehrmals. Aber sein Gebetsleben musste darunter nicht leiden: Gewissenhaft sorgte er dafür, zu ruhigeren Pfortenstunden, das heißt am späten Abend, nachzuholen, was den Tag über zu kurz gekommen war. Sein Gesichtsausdruck war stets ein mildes feines Lächeln, in gar jeder Lage, in der er sich befand.
Dieser Kurzüberblick genügt zunächst. Er genügt, um unwillkürlich in uns die Frage aufsteigen zu lassen: Wie nur kann ein Mensch dieser Erde so leben? Nein, so kann beim besten Willen niemand aus eigenem Wollen leben. Vielleicht wird der eine oder andere jetzt antworten: Gottes Gnade wird dem Bruder Benno mächtig beigestanden haben. Aber genügt diese Antwort wirklich? Ist das nicht etwas oberflächlich dahergesagt?
Verwurzelung in einem Geheimnis
In seinem Lebenslauf gab es ein Geheimnis, das Bruder Benno streng gehütet und nie preisgegeben hat: das Geheimnis seiner Berufung zum Kapuziner. Diese Berufung hatte er bei einer Pilgerreise nach Rom von Gott empfangen. Um das Ereignis dieser Berufung hüllt sich völliges Schweigen. Wer aber war er vorher? Matthias Koglbauer – so war sein Name. Sein Beruf: Nach Weggang aus der niederösterreichischen Heimat war er in Salzburg im Kapuzinerkloster ein vielfältiger Klosterdiener, der für das Kloster auch Erledigungen in der Stadt übernahm. Er liebte die Geselligkeit, auch in Gasthäusern. Das Fechten hatte er gelernt. Im Wort war er schlagfertig und humorvoll, wenn auch stets sehr lauter. Und verliebt war er in eine junge Frau; er dachte auch an Heirat. Freilich, gebetet hatte er auch gerne und viel. Sonst aber liebte er das Binnenleben des Klosters nicht sehr, vor allem nicht das Essen zur Fastenzeit. Soweit eine Kurzbeschreibung des Matthias Koglbauer vor dem Empfang seiner Berufung.
Dann aber sagte er Ja zum Ruf Gottes – es war kurz nach der Jahrhundertwende. Nun löste sich jede Äußerung von Vorlieben und Abneigungen auf. Einen härteren inneren Kampf hatte er zwar einmal noch zu bestehen, aber doch wirkte sich an ihm in zielstrebiger Geradheit das unergründliche Geheimnis seiner Berufung aus. Dabei ist er aber menschlich geblieben, frohgemut, humorvoll und nie unnatürlich. Aber alles ist fortan getaucht in ein ständig neu und stets gleich gesprochenes Jawort zu allem, was ihm widerfuhr und von ihm verlangt wurde.
Und dies führte die Seele dieses einfachen Kapuzinerbruders immer mehr in die Tiefe des Geheimnisses Gottes hinein. ‘Gut’ und ‘lieb’ allein war er nicht: Da ist wahrlich nichts zu verharmlosen! Vielmehr lohnt sich die Mühe nachzuweisen, wie das Leben von Bruder Benno auf einzigartige Weise ein Abglanz des dreifaltigen Gottes war.
Bruder Benno als Zeuge für Gott Vater
Als in der schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg der Nahrungsvorrat im Kloster knapp wurde, so dass auch die Mahlzeiten der Mönche sparsamer werden mussten, musste man den Pfortenbruder darauf aufmerksam machen, dass er den armen Leuten an der Pforte nicht so viel verteilen könne. Wie aber konnte es sein, dass Bruder Benno mit seinem gewohnten milden Lächeln erwiderte: “Es wird schon ausreichen” – und es reichte aus? Ich denke hier nicht an Brotvermehrungswunder, sondern an das Geheimnis, das seine Person und seine Hingabe einfach ständig umgeben hat und auf subtile Weise alles so einfädelte, dass es doch immer gerade so sich ausgegangen ist. Diese über jede rationale Kalkulationsmöglichkeit hinausgehende Freigebigkeit – sie zeigt, dass Bruder Benno in einer Intensität in Gottes Vorsehung verwurzelt war, die über das verstandesmäßige Berechnen hinausging. Dies aber ist ein Abglanz von Gott Vater: Denn Gott Vater ist die unerschöpflichen Quelle des Lebens in der Dreifaltigkeit, und Er ist zugleich die nie versiegende Quelle der Gaben seiner Vorsehung für uns Menschen.
Bruder Benno als Zeuge für Gott Sohn: Menschwerdung
Doch nicht nur Gott Vater spiegelte sich im Geheimnis des Bruder Benno wider: Gehen wir über zu Gott Sohn, Jesus Christus. Wir bereiten uns ja wieder vor auf das heilige Weihnachtsfest, auf die kleine Welt der Krippe in Bethlehem. Die Parallele zum Leben von Bruder Benno ist unverkennbar: Seine kleine Welt rund um die Klosterpforte, die er mit unbeirrter Gewissenhaftigkeit versorgte – sie ist ein Abglanz jener Demut und jenes Gehorsams, den Gott Sohn dem himmlischen Vater gegenüber erwies, als Er Mensch, ja Kind wurde. Die Selbstbescheidung, die im Leben des Bruder Benno nie auch nur spurenhaft abgeschwächt war – wenn dies ein Mann in besten Jahren aus eigener Kraft anstreben würde, er brächte geradezu seine Männlichkeit in Gefahr! Denn ein Mann, egal welchen Charakters er sein mag, braucht von Natur aus wenigstens ein Mindestmaß an äußerer Entfaltung und Gestaltungsmöglichkeit. Aber in totaler Selbstbescheidung ein ganz normaler Mensch – und eben auch Mann – zu bleiben, das weist hin auf das Geheimnis einer außerordentlichen Gnade, das macht das Leben von Bruder Benno zum Abglanz der Menschwerdung Gottes.
Bruder Benno als Zeuge für Gott Sohn: Kreuz
Die Lebenshingabe Jesu Christi gipfelte aber im Opfer des Kreuzes. Wir erwähnten bereits die ständig heftig schmerzenden Hände und Füße Bruder Bennos: Mag es im Winter noch heftiger gewesen sein als im Sommer – aber aufs Ganze gesehen springt doch eine Parallele zu den Wundmalen Jesu ins Auge. Und das buchstäbliche Gefesselt-Sein an den Klang der Pfortenglocke, pausenlos über 18 Jahre – erinnert es nicht daran, dass Jesus durch die Nägel ans Kreuz gefesselt wurde? Dazu kamen aber noch andere Demütigungen: Wenn freche Kinder ihn herausklingelten, oder Sandler die Suppe, die er ihnen brachte, ihm über den Kopf gossen, oder scharfe Hunde auf ihn losgelassen wurden und ihm die Mönchskutte zerrissen – nie hörte man (– das ist bezeugt! –) auch nur eine Spur einer aufgebrachten Reaktion aus Bruder Bennos Mund. Wir stehen hier vor dem Geheimnis einer Hingabe, die Abglanz des erlösenden Kreuzes Jesu Christi ist.
Bruder Benno als Zeuge für Gott Sohn: Auferstehung
Auf das Kreuz folgte bei Jesus aber der Ostermorgen, die Auferstehung. Bei Bruder Benno kommt uns hier nun nochmals das milde feine Lächeln in den Sinn, mit dem er ständig und überall zu erleben war. Dieses Lächeln war Ausdruck einer inneren Erlöstheit, einer Osterherrlichkeit, die er tief in seiner Seele getragen haben musste. Anders wäre nämlich ein solches Lächeln in dieser Beständigkeit bei den genannten Strapazen nicht zu erklären. Die durchdringenden Härten seines Lebens schmiedeten sich in ihm immer wieder in eine unsagbare seelische Milde um. In der Seele Bruder Bennos wirkte sich das Ostergeheimnis aus.
Bruder Benno als Zeuge für den Heiligen Geist: Gebetsleben
Nun gehen wir noch auf den Heiligen Geist ein. Wie nur, so fragen wir uns noch einmal, kann ein Pfortenbruder nach über 10 Stunden strengem Pfortendienst und den anschließenden Abrechnungen, die ihm in drei verschiedenen Währungen abverlangt wurden, zu weit vorgerückter Nachtstunde ein intensives Gebetsleben beginnen? Nicht selten betete er die Nacht durch. Paulus sagt freilich im Römerbrief, dass der Heilige Geist in uns spricht mit “Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können”: Genau dies muss sich in der Seele Bruder Bennos in ganz außergewöhnlicher Intensität ausgewirkt haben!
Bruder Benno als Zeuge für den Heiligen Geist: Universalität im Kleinen
Aber der Heilige Geist ist auch der Geist der Völkervielfalt, des Sprachwunders am Pfingsttag, der Universalität der weltweiten Kirche. Gewiss, Bruder Benno mit seiner kleinen Welt war kein Universalgenie. Er hat die Fülle der Aspekte des Daseins nicht in ein gedankliches System gebracht wie etwa große Philosophen, oder der Lebensfülle ein Kunstwerk gewidmet wie bedeutende Maler oder Komponisten. Nein, Bruder Benno hat die Fülle des Daseins still erlitten. Das war seine Universalität! Die ständigen Öffnung der Klosterpforte für ausnahmslos alles, was von außen auf ihn zukam – ja, dieses ‘für alles’, das war die wahrhaft katholische Universalität des Bruder Benno. Auch in das internationale Weltgeschehen sollte dies eingespannt sein, bekam er an der Pforte doch die Folgen der Weltwirtschaftskrise deutlich zu spüren. Das Weltweite wirkte in die kleine Welt der Klosterpforte direkt hinein, und Bruder Benno trug sein stetes stilles Jawort dazu im Herzen. Das ist wahrlich Abglanz des völkerumspannenden Heiligen Geistes, der im Großen die Kirche zur weltweiten Universalkirche gestaltet und beseelt!
Schluss: Bruder Benno als Kanal des Segens der Dreifaltigkeit
Kommen wir zum Schluss unserer Betrachtung. Kleine harmlose Wellen am Ufer – sie repräsentieren bisweilen eben eine riesige Wasseroberfläche, die das Auge kaum überspähen kann. Die kleine Welt des Bruder Benno – sie ist ganz entsprechend Abglanz des unergründlichen Mysteriums des dreifaltigen Gottes.
Liebe Schwestern und Brüder, als Christen werden wir von der heutigen oft antichristlichen Zivilisation systematisch klein gemacht. An das Klein-Werden müssen wir uns notgedrungen gewöhnen. Das macht den gottseligen Bruder Benno für uns so aktuell, ja hochaktuell: Bruder Benno zeigt uns neu auf, dass gerade auch eine kleine Welt die unergründliche Größe Gottes in sich tragen und wie einen Kanal in die Zeit hinein vermitteln kann. Ja, Bruder Benno war ein Kanal des Mysteriums Gottes. Und er blieb ein solcher Kanal, über den Tod hinaus, bis heute! Sein Grab hier in der Kapuzinerkirche bleibt ein Gnadenort seiner Fürsprache. Wüsste die Bevölkerung von Bregenz, welchen Schatz sie mit diesem Grab beheimatet – Kerzenprozessionen hierher wären keine Seltenheit. Und gäbe es auch nur drei heute lebende Personen, die ebenso Kanal des göttlichen Lebens für unsere Zeit wären – das ganze Ländle wäre in kurzer Zeit wie verwandelt… Amen.
P. Johannes Nebel FSO